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Die Schwerhörigkeit meiner Großmutter – Auch Angehörige sind betroffen
Eine meiner frühen Kindheitserinnerungen: Ich bin 8 Jahre alt, und meine Großmutter Erika sitzt in ihrem Schaukelstuhl und sieht zu, wie sich das Chaos von zwei Dutzend Enkelkindern während einer Weihnachtsfeier der Familie entfaltet. Sie scheint unerschütterlich zu sein, die Wahrheit ist jedoch komplizierter. Sie kann nicht gut hören, aber sie tut nichts dagegen. Diese Distanz macht mir in meiner Jugend nicht viel aus. Bei Ferienbesuchen nehmen alle Enkel das kleine Bauernhaus meiner Großeltern in der Mitte von Sachsen-Anhalt in Beschlag. Wir verbringen Stunden im Freien, streifen durch Weizenfelder umher und spielen Verstecken.
Als wir wieder reinkommen, gibt es gebratene Ente und jede Menge polnische Lieblingsspeisen. Später wird mir klar, dass es Ihr Weg ist, sich mit uns verbunden zu fühlen. Sie bringt ihre Liebe zum Ausdruck indem Sie uns Essen und Leckereien zubereitet: Kekse, Kuchen, selbstgemachte Torten.
Wir haben alles mit Freude gegessen. Als ich älter werde, fange ich an, mich nach etwas anderem zu sehnen. Ich suche eine emotionale Verbindung zu ihr, aber ihre Schwerhörigkeit macht es schwer, diese Kluft zu überbrücken. Die Erinnerung an meine Großmutter, die schweigend in ihrem Schaukelstuhl saß, ist diejenige, die mich bis heute nicht loslässt.
Hörgeräte waren keine Option, die sie in Betracht zog
Niemand weiß, wie sie ihr Gehör verloren hat. Vielleicht hatte sie als Kind einen Virus, der ihr das Gehör geraubt hat. Vielleicht war es ein Schalltrauma. Sie sprach nicht viel über sich selbst, nicht einmal mit ihren Kindern, geschweige denn mit ihren Enkeln – selbst mit den neugierigen. Ein Teil der Gründe, warum sich meine Großmutter isoliert fühlte, war selbst verschuldet. Hörgeräte waren keine Option, die sie in Erwägung zog. Ihre Eitelkeit und ihre störrische polnische Natur hielten sie davon ab, ein Hörgerät zu tragen. Damals waren die Geräte groß und auffällig, und sie trug ihr Haar kurz, so dass ihre Ohren gut sichtbar waren. Ich kann nur vermuten, dass sie wahrscheinlich nicht wollte, dass andere Menschen mitbekamen, wie schwer es ihr viel einfache Gespräche zu verfolgen.
Aber als Kind der Großen Depression machte sie sich wahrscheinlich eher Sorgen über die Haushaltskosten und die Sauberkeit im Haus. Als Bäuerin, die auf Knappheit und Mangel konditioniert war, vermied sie alles, was unnötige Ausgaben nach sich zog – selbst wenn es ihr helfen konnte. Ich wusste nur das von Ihr, was sie uns wissen lassen wollte. Ich war nur ein weiteres Kind, das sie wegen Geschichten über ihre Salz- und Pfefferstreuer Sammlung nervte. Wir schienen damals Welten voneinander entfernt zu sein.
Aber nach meiner Heirat und vor allem, als ich mein erstes Kind bekam, wurde die Beziehung zu meiner Großmutter enger. Je mehr sie und ich uns unterhielten, desto mehr bewunderte ich sie. Wir fanden Gemeinsamkeiten in unseren Macken und in unserer Lebenseinstellung. Manchmal ist es das Gewöhnliche, das eine Verbindung schafft. In unserem Fall waren es Fernsehserien, die wir uns gemeinsam anschauten. Ihre Schwerhörigkeit und ihre Entscheidung, auf Hörgeräte zu verzichten, waren problematisch, aber überschaubar. Wenn man sich sehr nah zu Ihr setzte, konnte sie ein normales Gespräch führen. Die räumliche Nähe und Intimität machte unsere Gespräche oft auch wertvoller.
Ein Lächeln, das mir sehr am Herzen liegt
Als die Jahre vergingen und sich ihre körperliche Gesundheit verschlechterte, zog sie in ein betreutes Wohnheim. Anfangs versteckte sie ihre Schwerhörigkeit auf die typische Weise, indem sie den Fernseher einfach lauter stellte und in Gesprächen vorgab alles zu verstehen. Eine ihrer Lieblingsmethoden zur Bewältigung war es, darum zu bitten, Dinge aufzuschreiben, sie zu lesen und dann eine Antwort zu geben. Eines Tages besuchte ich sie im Altersheim. Ich klopfte an die Tür und ging sofort hinein, weil ich wusste, dass meine Großmutter nicht antworten wird. Ich ging zu Ihr und gab Ihr einen Kuss. Ihre hellblauen und tränenreichen Augen leuchten auf. Die Erinnerung an Ihr Lächeln geht mir immer noch direkt ins Herz.
Ich setzte mich auf den nächsten Stuhl und fing an zu reden. Ich erzähle ihr von meinen beiden Kindern. Was mein Sohn macht und das er immer größer wird. Darüber, wie meine Tochter beim Lesen immer besser wird und bereits selbstständig Bücher in wenigen Stunden liest. Ich bringe sie auf den neuesten Stand, was meine Arbeit betrifft. Sie nickt, doch ihr Lächeln verblasst und mir wird klar, dass sie mich nicht hören kann. Meine Worte können Sie nicht erreichen, sie landen nirgendwo. Weder in ihrem Kopf noch in ihrem Herzen. Ich höre auf zu reden. Es gibt keine Worte mehr zu sagen. Meine Großmutter schaut mich an, und ich weiß, dass unsere gemeinsamen Momente in mehrfacher Hinsicht begrenzt sind.
Was hätte möglich sein können?
Kürzlich hörte ich einen Podcast über den Erfinder der Glühbirne Thomas Edison. Ich wurde hellhörig, als sich der Bericht Edisons Schwerhörigkeit zuwandte, die er wahrscheinlich aufgrund von Scharlach in der Kindheit und unbehandelten Ohrenentzündungen bekam. Edison war ein Genie, aber was hätte er sonst noch für die Welt erreichen können, wenn er nicht schwerhörig gewesen wäre und Hilfe bekommen hätte?
Wenn man eine Chance hat, seine eigene Lebensqualität zu verbessern, sollte man sie nutzen. Edisons Geschichte ließ mich an meine Großmutter denken, ich erinnerte mich an ihr Lächeln und ihre nachdenklichen Ratschläge. Als sie vor einigen Jahren starb, hatte ich das Gefühl, sie zweimal verloren zu haben. Ich würde alles dafür geben, noch ein paar Momente mit Ihr zu verbringen, ob mit oder ohne Schwerhörigkeit. Aber ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie viel mehr wir über einander hätten erfahren können, wenn wir mehr Worte miteinander gewechselt hätten.
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© sabinevanerp / Pixabay